Dienstag, 10. Mai 2016

Welschlauf 2016: Ein K(r)ampf mit der anspruchsvollen Strecke

Der Wecker des Smartphone´s klingelt. Zu diesem Zeitpunkt sitze ich jedoch bereits seit einer guten Stunde im Wohnzimmer und schlürfe den zweiten Kaffee. Die letzte aber auch vorletzte Nacht verläuft aus mir nicht ganz verständlichen Gründen sehr schlafarm. Lampenfieber?

Mein typisches Marathon-Frühstück bestand bisher immer aus einem Toast mit Honig und einem weiteren Toast mit Nutella. Wobei "typisch" relativ ist. Ich bin bislang erst 2 Marathons gelaufen; beide auf flacher Strecke in Graz. Das hier wird heute mein 3. Marathon und der erste mit richtig vielen Höhenmetern. Jedenfalls wird heute morgen auf Nutella verzichtet. Schokolade würde ohnehin nur sehr kurzfristig Energie spenden und meinen Blutzuckerspiegel prompt wieder sinken lassen. Statt dessen liegt ein Toast mit Honig und Bananenscheiben vor mit auf dem Frühstücksteller; dazu die mittlerweile dritte Tasse Kaffee sowie ein Glas Wasser.

Die Anreise zum Welschlauf* gestaltet sich für mich heute als Triathlon. Per Rad geht es zum Bahnhof Kalsdorf um dann mit der S-Bahn direkt zum Ziel des Marathons, nach Ehrenhausen, gebracht zu werden. In Ehrenhausen stehen Busse bereit, die die künftigen Marathonas und Marathonis zum Start nach Wies chauffieren. So können Frau und Kind später zum Zieleinlauf anreisen, um anschließend meinen geschundenen Körper nach Hause zu fahren.

*Der Welschlauf, ein landschaftlich wunderschöner Marathon im südwestlichen Bereich der Steiermark, wird vom Veranstalter selbst als schönster, schwierigster und geselligster Lauf bezeichnet. Er führt jährlich wechselnd von Wies nach Ehrenhausen (wie 2016) oder eben in umgekehrter Richtung von Ehrenhausen mit Ziel in Wies.

Auf dem Weg nach Wies knurrt mein Magen bereits. Mein Körper scheint zu wissen, dass für die bevorstehenden 42,2 Kilometer samt rund 1000 Höhenmeter mein Frühstück zu gering ausgefallen ist. In Wies hole ich die Startnummer ab, ziehe meine Laufklamotten an und gebe meinen Rucksack beim "Lumpentransport" ab. Und steuere die im unmittelbaren Startbereich errichtete Verpflegesstelle an. Ich gönne meinem Nachschub urgierenden Magen einen Becher Wasser sowie eine Banane. Das muss jetzt für die ersten Kilometer reichen. Der Welschlauf ist mit Verpflegesstellen üppig ausgestattet. Ein Gel befindet sich in meiner Hosentasche. Dieses soll bei rund Kilometer 27 mit 2 Becher Wasser in den Magen gespült werden und mir für einige Kilometer zusätzliche Energie liefern. Die beim letzten 40 km langen Lauf erprobten und für sehr gut befundenen Datteln habe ich nicht in der Hosentasche. Warum nicht? Keine Ahnung ...

Die Blasmusikkapelle sowie eine unterhaltsame Moderation lässt die letzte Stunde vor dem Startschuss im nu vergehen. Sogar ein Teilnehmer aus Indien wird begrüßt, zum Interview gebeten und mit Applaus bedacht, So erfahren wir, dass der ehrgeizige ältere Herr erst seit rund 40 Monaten regelmäßig läuft und es in dieser Zeit auf 40 Marathons gebracht hat. Der Welschlauf wird nach knapp 6 Stunden und 30 Minuten sein 41. Finish sein.

Ehrenhausen, noch 42,2 km entfernt
Pünktlich um 10 Uhr werde ich mit weiteren 230 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Marathons auf die Strecke gelassen. Ich versuche auf den ersten paar hundert Meter, die uns aus Wies führen, mein Tempo zu finden und bereits nach rund einem Kilometer geht die Strecke das erste mal aufwärts. Mein Marschplan sieht vor, dass ich den Zeitverlust, der sich beim bergauf rennen unweigerlich zu Buche schlagen wird, auf den Bergab-Passagen gut machen und spekuliere so mit einer durchschnittlichen Pace von rund 6 Minuten pro Kilometer, was eine Zielzeit von 4 Stunden und 12 Minuten ergeben soll. Insgeheim erhoffe ich mir ein Laufwunder und eine Zeit knapp unter der 4-Stunden-Marke, was mich im ersten Viertel des Läuferfeldes finishen lassen würde. Ich bin im Jahr 2015 einem Laufclub beigetreten, dem MT-Hausmannstätten. Da die Mädl´s und Jungs dieses "MarathonTeams-Hausmannstätten" wöchentlich mit TOP-Zeiten aufhorchen lassen, will Wolfgang sich ja nicht "blamieren".

Die Strecke führt nun bis ungefähr Kilometer 4 moderat aber stetig nach oben. Meine Kilometerzeiten unter 6 min/km lassen mich zuversichtlich stimmen. Die Ortschaften Kopreinig und St. Ulrich am Greith werden hinter uns gelassen und ich laufe mit dem Feld Richtung Obergreith.

Die nächsten Kilometer verlaufen ebenfalls sehr abwechslungsreich. Flache bis steile Anstiege, kurze ebene Passagen wiederum gefolgt von moderatem bis steilem Gefälle wechseln sich ab und gestalten den Lauf kurzweilig. Bei Kilometer 10 haben wir die Talsohle in Wuggau erreicht und laufen die nächsten Kilometer auf flachem Terrain Richtung St. Johann im Saggautal. Der Wettergott meint es heute besonders gut und schickt uns beinahe ungetrübten Sonnenschein. Und mir einen speziellen Mitläufer! Einen der Sorte von Windschattenläufer, die Platzangst auslösen, so dicht auflaufen, dass die Atemgeräusche direkt an mein Ohr gehörig nerven. Ich würdige ihn jedoch keines Blickes und lasse mir die "laufende" Unhöflichkeit wortlos gefallen.

St. Johann ist erreicht, Nun folgt ein beinahe ununterbrochener Anstieg bis zur Halbmarathonmarke. Mein Windschatten klebt nach wie vor an meinen Fersen. Ich fühle mich zu diesem Zeitpunkt hervorragend und spüre in den Anstiegen, dass sich die langen Dauerläufe mit integrierten Höhenmetern während der Vorbereitungszeit bezahlt machen. Trotz teilweise knackigen Anstiegen erreiche ich Kilometer 21,1 nach 2 Stunden und 2 Minuten im Soll. Ich reime mir zusammen, dass die Strecke auf Grund des Höhenprofils auf der zweiten Hälfte einfacher zu laufen ist und so scheinen mir die vorgenommenen 4 Stunden und 12 Minuten zu diesem Zeitpunkt sicher zu sein. Ja sogar eine Zeit unter der 4-Stunden-Schwelle kommt mir machbar vor.

Nachtrag zu meinem Schatten: Der musste wohl oder übel vor rund 2 Kilometer an mir vorbei, da ich bei einer Verpflegesstelle stehen geblieben bin und mir in Ruhe jeweils einen Becher Iso sowie Wasser und ein Stück Banane gegönnt habe. Nun ist er rund 100 Meter vor mir und ich fühle mich wieder frei.

Die Strecke verläuft nun leicht fallend und bald treffe ich auf Halbmarathon-Teilnehmerinnen und -teilnehmer. Diese starteten 2 Stunden später im Ort Leutschach und hatten die ersten 3 Kilometer steilen Anstieg hinter sich. Die bislang recht leere Laufstrecke füllt sich und die Überholvorgänge an langsameren Halbmarathonläufer vorbei machen mächtig viel Spaß. Richtig gelesen: Mein Jagdinstinkt wurde wieder geweckt und ich überhole fröhlich vor mich hin, teilweise mit viel zu hohem Tempo. Nicht daran denkend, dass ich einige Körner für die verbleibenden 17 - 18 Kilometer sparen sollte. Da fehlt es mir jedenfalls noch an entsprechender Erfahrung (und auch Disziplin) über lange Distanzen.

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Und wo Dummheit ist, ist auch Konsequenz. Und so meldet sich das erste mal der hintere Oberschenkel meines rechten Beines zu Wort. Er gibt mir zu erkennen, dass er sich in naher Zukunft verkrampfen möchte. Mich verunsichert diese Vorwarnung, zumal ich in meinem Läuferleben erst einmal mit Muskelkrämpfen zu tun hatte. Und das war auf Kilometer 42 meines ersten Marathons. Aber jetzt schon? Noch fast 2 Stunden vor dem Ziel? Okay, ich schwitze angesichts des auf rund 25 Grad gekletterten Quecksilbers ungewohnt viel, aber ich trinke auch entsprechend an den Verpflegesposten. Die weißen Schlieren auf meinem schwarzen Shirt zeigen mir an, dass ich zwar viele Mineralstoffe aus meinem Körper transpiriere. Und ich überholte Halbmarathonläufer. Ist das ein so schweres Vergehen, dass ich als Strafe Oberschenkelkrämpfe angedroht bekomme?

lecker Brote und Bier im Ziel
Ich nehme ein wenig Tempo raus. Einige hundert Meter später nehme ich viel Tempo raus. Will heißen, ich bin stehen geblieben und mache erste Dehnungs- und Lockerungsübungen. Nach 1-2 Minuten geht es mit vorsichtigen Schritten bis zur nächsten Labestation und zwei Becher Iso sowie ein weiterer Becher Wasser werden getrunken. Leider findet sich nichts salzhaltiges am Buffet. Die Stopps hinterlassen natürlich Spuren bei den Kilometerzeiten und kratzen vor allem am Selbstvertrauen. Ich spüre, dass ich gut für diesen Lauf vorbereitet bin aber Krämpfe, so viele Kilometer vor dem Ziel, kamen in meinem Marschplan nicht vor.

Das letzte Viertel der Strecke ist mehr schlecht als recht erreicht. Viertelmarathonteilnehmer und Starter des Nordic walking - Bewerbes säumen die Strecke und applaudieren, muntern auf, lenken kurzzeitig von den Qualen ab. Sie müssen sich noch eine Stunde gedulden, bis auch sie auf die Strecke dürfen. Durch die Gemeinde Gamlitz geht es entlang der Sulztaler Weinstraße teilweise nun so steil abwärts dass es sich anfühlt, als würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis mein Quadrizeps reißt. Aber es wäre nicht der Welschlauf, wenn es nicht hieße: Wo es runter geht, geht es auch wieder rauf. Und so wollen wieder unzählige positive Höhenmeter über Serpentinen zum Hochsulz bezwungen werden. Der Quadrizeps ist übrigens doch nicht gerissen. Ich bin hier gezwungen, den Großteil des Anstieges zu gehen. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Kraft würde reichen um trotz der enormen Steigung tippelnd zu laufen, aber die Schmerzen in den immer wieder krampfenden Muskeln sind groß. Noch immer 9 Kilometer bis nach Ehrenhausen.

Ein Blick auf die Kilometerzeiten lässt erahnen, dass das Minimalziel 4 Stunden und 12 Minuten außer Reichweite geraten ist. Ich habe teilweise Zweifel, es überhaupt in das Ziel zu schaffen. Der Gedanke, dass ich im Ziel von meiner Familie erwartet werde und sich die Sorge um meinen Verbleib von Minute zu Minute steigern wird, lässt meine Zähne zusammenbeißen und weitertraben.

Ich habe mittlerweile den letzten Anstieg gemeistert und bin froh, an der Verpflegesstelle nun neben Iso, Wasser und Obst auch Schwarzbrote mit diversen Aufstrichen und gesüßtes Weißbrot kredenzt zu bekommen. Ich greife herzhaft zu und hoffe auf diese Weise meine muskulären Probleme in den Griff zu bekommen.

Noch knapp 7 Kilometer liegen vor mir. Es geht nun moderat abwärts der Ziellinie in Ehrenhausen entgegen. Die Zielzeit spielt für mich keine Rolle mehr. Ich möchte mich einfach nur noch in das Ziel kämpfen. Aufgeben ist für mich ohnehin keine Option; nicht wegen lapidarer Muskelprobleme.

einfach nur schön ...
Laufen, gehen, stehen und dehnen beschreibt seit einer gefühlten Ewigkeit den Rhythmus meiner Fortbewegung. Noch zwei Kilometer und dann ist´s noch ein allerletzter Kilometer. Ich werde es nicht mal unter 4 Stunden und 30 Minuten schaffen. Ich habe teilweise Tränen in den Augen. Tränen vor Enttäuschung über die nicht erreichte Zielsetzung aber vor allem Tränen der Vorfreude, dass ich es bald zu meiner Familie geschafft habe.

Mein letzter Laufwunsch für heute: Ich möchte nicht auf der Zielgeraden stehen bleiben müssen. So gehe ich bis ungefähr 700 Meter vor dem Ziel, versuche meine Oberschenkel ein letztes mal zu lockern und hoffe nun, im Laufschritt die Ziellinie zu überqueren. Ich möchte laufend ankommen und mich nicht verkrampft hinkend in das Ziel schleppen.

Ich bin im Ortskern von Ehrenhausen angelangt. Die Gastgärten der Weinlokale sind gut gefüllt. Leute jubeln zu, rufen mich beim Namen (nein, die kennen mich nicht alle persönlich; steht auf der Startnummer), feuern an. Gänsehaut pur! Die Oberschenkel meinen es nun gut mit mir. Sie gönnen mir diesen Zieleinlauf ohne Krampfattacke und so überquere ich nach 4 Stunden, 32 Minuten und einigen Sekunden die Ziellinie des Welschmarathons.

Mein Sohn kommt auf mich zugelaufen. Ich nehme ihn hoch und wanke zu meinem Schatz. Was bin ich froh, bei meiner Familie zu sein. Danke für´s warten und für´s da sein! Ich erhalte meine Finisher-Medaille. Auch Sebastian, mein 4-jähriger Sohnemann, bekommt eine Medaille für sein ausdauerndes Warten auf Papa. Die hat er sich redlich verdient. Immerhin bin ich seit 20 Minuten überfällig.

Nach einer Dusche stärken wir uns im Festzelt, bevor es wieder nach Hause geht. Welschlauf, lass dir sagen, ich komme im nächsten Jahr wieder. Dieser wunderschöne wenn auch sehr anspruchsvolle Lauf mit samt den unzähligen strahlenden Helferinnen und Helfern an den gut ausgestatteten Verpflegestellen gehört einfach gelaufen. Ich werde neben den heute vergessenen Datteln künftig auf langen Wettkämpfen auch Salztabletten in der Hosentasche haben und so den Krämpfen den Garaus machen.

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